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„THE LOST BOY“ von Wolfgang Webb

  • Autorenbild: CARL
    CARL
  • vor 1 Tag
  • 2 Min. Lesezeit


Wolfgang Webbs The Lost Boy erscheint wie ein verblasstes Foto, das man auf einem Dachboden findet – an den Rändern abgenutzt, in Sepiatönen getränkt, voller unausgesprochener Geschichten, die darauf warten, wieder geatmet zu werden. Während sein Debüt The Insomniacs’ Lullaby die Schlaflosigkeit ins Leere flüsterte, wagt sich dieses zweite Werk in die langen Korridore der eigenen Psyche und sucht nach Licht in den Rissen der Vergangenheit. Webb schreibt keine einfachen Songs er komponiert verwunschene Räume. Jeder Titel fühlt sich an, als betrete man einen anderen Raum seines inneren Hauses gefüllt mit Echos, verlorenen Briefen und plötzlichen Windzügen kalter Wahrheit.


Von den ersten Tönen an pulsiert The Lost Boy mit dem Schmerz unvollendeter Gespräche. Webbs Stimme, zerbrechlich und doch trotzig, trägt das Gewicht all dessen, was nie gesagt wurde – wie jemand, der unter einer Decke im Morgengrauen vorsichtig seine Geheimnisse gesteht. Doch das Außergewöhnliche an diesem Album ist nicht nur die rohe Ehrlichkeit es ist die Art, wie Webb den Schmerz in etwas Merkwürdig Elegantes verwandelt. Seine Texte wirken nie aufgesetzt bedeutungsschwer, doch Stunden später entfalten sie sich, wie blaue Flecken, die erst langsam unter der Haut sichtbar werden.



Klanglich bewegt sich das Album wie ein Traum, der sich nicht entscheiden kann, ob er Albtraum oder Wiegenlied sein will. Analoge Synthesizer winden sich um klagende Trompeten; verhallte Gitarren schweben wie fernes Donnergrollen. Produzent Bruno Ellingham formt den Sound zu einer Breitwand-Melancholie einer Kollision in Zeitlupe aus dem nebligen Gewicht von Massive Attack und dem futuristischen Leuchten von Vangelis. Estheros Gastgesang auf „March“ begleitet Webb nicht einfach sie verfolgt ihn, wie eine Erinnerung, die sich weigert zu verblassen. Ihre Stimmen verschlingen sich nicht wie Liebende, sondern wie Fremde, die sich in einer Menge erkennen, aus einem Leben davor.


Doch The Lost Boy versinkt nie in Selbstmitleid. Stücke wie „The Ride“ und „Clap“ schimmern mit dem zarten Mut eines Menschen, der gerade erst wieder lernt zu sprechen, nach Jahren des Schweigens. Selbst in den schwersten Momenten etwa im trauernden Cello von „Roads“ glimmt ein trotziges Aufbegehren, ein Weigern, sich vollständig vom Schmerz verschlingen zu lassen. Webb kennt das Gewicht von Geistern, doch er ergibt sich ihnen nicht. Stattdessen lässt er sie an den Rändern seiner Songs tanzen, ohne ihnen je die Hauptrolle zu überlassen.


Am Ende von The Lost Boy gibt es keine Antworten, keine Erlösung aber es lässt den Zuhörer auch nicht allein zurück. Es bietet etwas Leiseres, Selteneres: Gesellschaft in der Verwirrung. Webbs Gabe liegt nicht darin, Wunden zu heilen, sondern in der gemeinsamen Wanderung durch sie hindurch mit ausgestreckter Hand, bebender, aber standhafter Stimme. In einer Zeit überproduzierter Belanglosigkeiten fühlt sich dieses Album an wie ein handgeschriebener Brief mit Tintenflecken, Fehlern, Leben. Und genau deshalb bleibt es: nicht als Produkt, sondern als Begleiter.




SCHRIFTSTELLER: Carl

 
 
 

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